Capoeira mit King Kong
Von Cornelia Schmid
»Aulas de capoeira: de segunda a sábado 08:00 às 10:00 h« Genau danach habe ich gesucht auf meinem frühmorgendlichen Streifzug durch die engen Gassen Pelourinhos. Hier in der historischen Altstadt Salvador da Bahias hat der afrobrasilianische Kampftanz Capoeira nämlich seinen Ursprung.

Alte Riten und Traditionen sind in Capoeira von hoher Bedeutung und werden auch heute noch in Form von Geschichten, Liedern und auch Bewegungen vom Meister an den Schüler überliefert.
Aus dem zweiten Stock über mir höre ich laute Musik und das metallene Scheppern von schweren Hanteln, die zu Boden gehen. Das Treppenhaus ist eng und heruntergekommen. MESTRE KING KONG – A FORÇA DE ZUMBI steht in grossen Lettern an der Wand. Zumbi, ein berühmter Anführer aufständischer Sklaven, scheint die Leitfigur von Mestre King Kongs Capoeira-Schule zu sein. Zumbi klingt wie Zombi, schiesst es mir durch den Kopf. Neugierig, wer sich »Meister King Kong« nennt, steige ich die steile Treppe empor. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Film-Affen King Kong, wie er sich in der Morgendämmerung an die Spitze des Empire State Building klammert und mit seinen riesigen Pranken Propellerflugzeuge vom Himmel holt.
Mit einem flauen Gefühl im Magen schaue ich mich im Capoeira-Studio um. Wie das Treppenhaus wirkt auch der Trainingsraum schäbig. Durch das einzige Fenster im Raum sieht man in einen verwahrlosten Innenhof. Ein dreckiger Spiegel nimmt wie in einem Ballett-Studio eine ganze Wand ein. Der Blickfang sind jedoch lebensgrosse Poster eines schwarzen, muskulösen Capoeira-Tänzers und vergilbte Fotografien eines Champions in Siegerpose. Das muss Mestre King Kong sein, denke ich mir. Unsicher, wo ich hier gelandet bin, will ich auf dem Absatz kehrtmachen. Doch dafür ist es bereits zu spät. Mit finsterem Blick steht der Meister in voller Grösse plötzlich vor mir.
Etwas verdattert erkläre ich dem Hünen, dass ich bei einer Capoeira- Stunde zusehen möchte. In einem Kauderwelsch aus Portugiesisch, Spanisch und Italienisch gibt mir der Schwarze zu verstehen, dass er zurzeit keine Studenten habe, mir aber gerne eine Probelektion erteilen könne. Nach einigen weiteren Erklärungen kapiere ich auch, dass »Mestre King Kong«, wie ihn seine Schüler nennen, nicht irgendwer ist, sondern ein mehrfacher Capoeira-Weltmeister. Der drahtige 62-Jährige gehört zur ersten Garde der Capoeira-Mestre in Salvador. Warum sich die elegante brasilianische Kampfkunst also nicht von einem Meister seines Fachs zeigen lassen? Welch ein Glück ich doch habe.
Entstanden ist der afrobrasilianische Kampftanz vor rund 400 Jahren. In ihrem Befreiungskampf gegen die portugiesische Kolonialmacht tarnten afrikanische Sklaven die verbotenen kämpferischen Bewegungen als Tanz. Nach langen Zeiten der Kriminalisierung ist Capoeira seit den 30er-Jahren wieder legal und wird seitdem zunehmend als afrobrasilianisches Kulturgut wertgeschätzt. Alte Riten und Traditionen sind in Capoeira von hoher Bedeutung und werden auch heute noch in Form von Geschichten, Liedern und auch Bewegungen vom Meister an den Schüler überliefert. Im Laufe der Jahre sind andere Kampfkünste wie Ringen, Jiu-Jitsu und Wushu als moderne Formen eingeflossen.
Ich bin in meiner Probelektion mit Mestre King Kong weit weg von Akrobatik-Elementen, Sprüngen oder den charakteristisch bodennahen Drehungen. Ich beginne mit langen Ausfallschritten nach hinten: Links, rechts, links, rechts, links, rechts, bis der Meister auch mit der dazugehörigen Armhaltung zufrieden ist. Während aus dem Nebenraum brasilianische Musik in ohrenbetäubender Lautstärke aus einem Transistorradio dröhnt, nehme ich die nächste Stufe in Angriff.
Vor mir steht eine orange-weiss gestreifte Verkehrspylone. Ausfallschritt links, Ausfallschritt rechts, das gestreckte linke Bein elegant über die Pylone schwingen, Ausfallschritt rechts, dann links, rechts Bein über die Pylone hieven. King Kong weist mich an, meine Bewegungen im grossen Spiegel zu kontrollieren. Ich gebe ein jämmerliches Bild ab und schäme mich in Grund und Boden. Worauf habe ich mich da bloss eingelassen.
Nun gibt mir mein Lehrer zu verstehen, dass Rumpfbeugen angesagt sind. Der Schweiss rinnt mir über die Stirn und der Capoeira-Meister wird zum unnachgiebigen Personal Trainer. Zwanzig Züge nehme ich mir vor – ich will mich ja nicht noch mehr blamieren. Bevor mein King Kong weiter seine Hanteln stemmt, trägt er mir Liegestütze auf. Wer eine Capoeirista werden will, braucht straffe Bauchmuskeln und gestählte Arme. Meine Glieder fühlen sich an wie weiche Pflaumen und der Waschbrettbauch ist Wunschdenken. Das koordinative Highlight meiner Probelektion ist die Verbindung des Pylonen-Elements mit zwei bodennahen halben Drehungen. Ich gebe mir redlich Mühe, so elegant wie möglich über den Boden zu wirbeln und meine Beine in die Höhe schnellen zu lassen. Der Meister ist zufrieden, gibt mir jedoch zu verstehen, dass mir die nötige Lockerheit und Grazie noch etwas abgehe. Die Einladung das Capoeira- Training am nächsten Morgen fortzusetzen, schlage ich freundlich aus.
Durchgeschwitzt und mit einem Lächeln auf den Lippen erhole ich mich an der Sonne von den Strapazen. Immer noch im Adrenalinrausch meiner ersten Capoeira-Lektion versuche ich mehr über meinen Meister zu erfahren. »Mestre King Kong da Bahia é preso em Salvador da Bahia por homicídio« sind die Schlagzeilen, die mir ins Auge springen, als ich seinen Namen google. »Mestre King Kong aus Salvador da Bahia wegen Totschlags verhaftet«. Im Streit soll er seine Frau getötet haben. Mir läuft ein heftiger Schauer über den Rücken. Bin ich gerade den Fängen eines gefährlichen Mörders entronnen, durchfährt es mich. Ich suche nach weiteren Berichten zur grausigen Tat. Aus Eifersucht habe er ihr Haus angezündet, lese ich weiter. Geschockt, einem gefährlichen Brandstifter gegenüber gestanden zu haben, bestelle ich einen weiteren Caipirinha. Eine Zeitungsente … an allem nichts dran … sonst müsste er ja jetzt im Gefängnis sitzen, beruhige ich mich. Um das Studio des »Mestre King Kong« mache ich einen grossen Bogen bis zu meiner Abreise in die Chapada Diamantina, wo ich Saulo treffe – einen ehemaligen brasilianischen Fussballprofi. Aber das ist eine andere Geschichte.







Short Stories
Kulturaustausch zum Frühstück
In Guizhou scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Für viele ausländischen Besucher ist die Provinz ein weisser Fleck auf der Landkarte.
In Guizhou, time seems to have stood still. For most foreign visitors, the province is still a white spot on the map.
Aufguss der langen Freundschaft
Gongfu Cha, die Zubereitung des chinesischen Oolong-Tees, ist eine Kunst, ein spirituelles und philosophisches Erlebnis
Gongfu Cha, the preparation of Chinese Oolong tea is an art, a spiritual and philosophical experience.